"Lust und Kunst"  Geschichten und Texte


Die Geschichte vom kleinen Vogel

Das Hintergrundbild zeigt einen jungen Vogel.


oder auch "Die Quelle der Sehnsucht".

Für E.

Es war einmal ein kleiner Vogel...

er schlüpfte in einem kleinen Nest, im Apfelbaum eines kleinen wunderschönen Gartens. Der Garten war von einer hohen Hecke umgeben, die alle Stürme abhielt, während ihre Blüten das Sonnenlicht strahlend in den Garten geleiteten. Die Wolken kleideten das Dach des Gartens in immer neue Gewänder. Der kleine Vogel war glücklich.

Seine Eltern sorgten liebevoll für ihn und erzählten ihm alles, was sie vom Garten wussten. Der kleine Vogel hörte aufmerksam zu. Eines Tages, nachdem ihm ein wunderschönes Federkleid gewachsen war, leiteten sie ihn an, wie er seine Flügel zu gebrauchen habe. Er habe sich auf den Nestrand zu hocken, lehrten sie ihn, sorgsam, so dass er seine Eltern nicht stößt, seine Flügel auszubreiten und brav auf und ab zu bewegen.
Nachdem er das eine Zeit geübt hatte, spürte er, wie die Luft begann, seine Flügel zu tragen.

Und dann war es soweit. Aufgeregt flatternd ließ er den Nestrand los und es gelang ihm tatsächlich zum nächsten Ast zu fliegen. "Habt ihr das gesehen?", rief er seinen Eltern zu. "ICH KANN FLIEGEN!", und seine Eltern sahen sich stolz an und nickten.

Der kleine Vogel begann, den Garten zu erkunden. Er scharrte in der Erde und fand, wie seine Eltern ihm einst erzählt hatten, wunderschöne Würmer, die ihm gut schmeckten. Auch alles andere war so, wie die Eltern es berichtet hatten. Der kleine Vogel war glücklich und sang dieses Glück in den Tag hinaus.

Eines Tages saß er wieder einmal auf einem warmen Stein, der zu seinem Lieblingsplatz geworden war, in der Sonne. Erfüllt von Glück ließ er seine Stimme so kräftig erschallen, wie noch nie zuvor.
Plötzlich gab es ein lautes Krachen, bei dem der kleine Vogel heftig zusammenfuhr, während ihm sein schönstes Lied in der Kehle vertrocknete. Den Stein durchzog ein langer Riss.

Angstvoll äugte der kleine Vogel mit schief gelegtem Kopf in den unheimlichen, dunklen Spalt, der sich da aufgetan hatte. Tief unten sah er ein geheimnisvolles Glitzern, das ihn magisch anzog. Er versuchte genauer hinzuschauen, doch der Spalt war zu schmal. Er steckte seinen Schnabel hinein und scharrte auch an der Bruchstelle, doch der Stein lag wie er lag, so sehr und so lange er sich auch bemühte.

Endlich beschloss er, seine Eltern zur Hilfe zu rufen. Doch es kam kein einziger Ton heraus, denn noch immer saß das vertrocknete Lied in seiner Kehle. Traurig schaute er noch einmal in den Spalt um das Glitzern wenigstens in Erinnerung zu behalten. Plötzlich löste sich ein scharfer Strahl aus der Tiefe und fuhr ihm wie ein Blitz in den Körper. Ein nie gekannter Tatendrang und eine unbändige Kraft durchfluteten ihn. Seines schönen Federkleides nicht achtend, presste er sich in den Spalt, Schnabel und Krallen drückten und schabten am Stein. Er spürte nicht einmal, dass er sich an einer scharfen Kante verletzte - und dann gab der Stein nach.

Der Vogel plumpste in eine Höhle. Die Höhle war von einem murmelnden Geräusch erfüllt. Wasser floss glitzernd durch eine steinige Rinne. "Das ist es also", dachte der Vogel, " das ganze Glitzern,- nichts als einfaches Wasser! Dafür habe ich mich also so abgeplagt!" Durch die heftige Anstrengung hatte er jedoch furchtbaren Durst und das vertrocknete Lied zerstach ihm die Kehle. So beugte er sich über das Wasser und trank.

Die Eltern des kleinen Vogels erschraken heftig als sie ihn so sahen. Zerschunden und erschöpft flatterte er mit letzter Kraft in das Nest. Er sah so bemitleidenswert aus, dass seine Eltern sogar darauf verzichteten, ihn wegen seines zerrauften Federkleides zu schelten. Als der kleine Vogel dann endlich berichten konnte was ihm zugestoßen war, begannen die Eltern heftig zu weinen. "Du hast doch wohl nicht vom Wasser ... getrunken?", fragte der Vater. "Ich hatte doch so einen Durst...", sagte der kleine Vogel schüchtern mit gesenktem Blick, und die Eltern weinten darauf hin noch mehr als vorher und der kleine Vogel fühlte sich furchtbar schuldig...

"Die Zeit heilt alle Wunden", sagt ein altes Sprichwort, doch es darf bezweifelt werden, ob das stimmt...

Das Federkleid des kleinen Vogels glänzte wieder wie eh und je, seine Krallen wuchsen nach und die Schrammen an seinem Schnabel verschwanden. Die Hecke beschützte den kleinen wunderschönen Garten vor Sturm und ihre Blüten geleiteten strahlend das Sonnenlicht hinein. Die Wolken kleideten das Dach des Gartens in immer neue Gewänder.

Merkwürdig war, dass der kleine Vogel den geborstenen Stein und seinen Lieblingsplatz nicht mehr finden konnte. Alles sah an der Stelle noch so aus wie sonst, doch der Stein war verschwunden und mit ihm dieses besondere Gefühl das den kleinen Vogel hier immer erfüllt hatte.

Der kleine Vogel suchte sich neue Plätze zum Singen, doch ihm fiel auf, dass seine Lieder einen Klang hatten, der traurig stimmte. "Mir fehlt mein Lieblingsplatz", sagte sich der kleine Vogel, " deshalb klingen meine Lieder so traurig. Nur dort konnte ich wirklich glücklich sein. - Doch das ist wohl für immer vorbei." Er seufzte tief, sang so gut er konnte, doch das Herz wurde ihm immer schwerer.

In dunklen Nächten, wenn er sich einsam fühlte, spürte der kleine Vogel jetzt manchmal ein seltsames Ziehen in seinem Herzen, und stets musste er dabei an das Glitzern in dem dunklen Spalt denken. Im Hals spürte er noch immer das Gefühl, wie es war, als das Wasser das vertrocknete Lied darin aufweichte und plötzlich wusste er, dass das ziehende Gefühl in seinem Herzen "Sehnsucht" heißt; wußte, dass diese Sehnsucht aus dem murmelnden Wasser stammte und sich durch sein Lied den Weg in die Welt bahnte. Er ahnte nun auch, warum seine Eltern so geweint hatten, und er fühlte sich sehr einsam.

Einmal, als der kleine Vogel beim Singen den Kopf hob, verschwand die letzte Wolke vom Gewand des Daches des kleinen wunderschönen Gartens. Noch nie hatte der kleine Vogel einen solch unendlich tiefen, dunkelblauen Himmel gesehen. In seinem überwältigenden Staunen flammte plötzlich die Sehnsucht in seinem Herzen glühend heiß auf, und ohne sich von seinen Eltern zu verabschieden, breitete er die Flügel aus und flog über die höchsten Zweige der Hecke hinaus in dieses zauberhafte Blau hinein.

Höher und höher flog der kleine Vogel. Die Flügel taten ihm zwar weh von der ungewohnten Anstrengung, doch spürte er eine berauschende Kraft und der Wind füllte seine Lungen. So brach ein Lied aus ihm heraus, wie er es noch nie gesungen hatte. Die Sonne verschwand glühend am weiten Horizont und das Dunkel floss über die Welt. Der Vogel sang und sang. Mit jedem Ton wuchs er, sein Herz erblühte und selbst die fernsten Sterne hielten in ihrem Gesang inne und lauschten ihm.

Mächtig wurden die Schwingen des Vogels, denn in der Weite haben die Stürme ihr Reich und in der Unendlichkeit gibt es keinen Ast zum Ruhen. Der Vogel lernte, sich die Stürme zu Freunden zu machen und auf den Klängen seines Liedes neue Kraft zu schöpfen. Stolz und wundervoll zog er seine Kreise, höher und höher, und die Horizonte wurden weiter und weiter und sein Lied wurde immer klangvoller und melodienreicher. Er war glücklich wie nie in seinem Leben...

"Das einzig Unveränderliche ist, dass sich alles verändert.", sagt ein altes Sprichwort und es mag eine Wahrheit darin sein...

In einem seiner majestätischen Kreise traf der Vogel eines Tages auf eine kleine Wolke. "Was tust Du hier in meinem Kreis?", fragte der Vogel. "Ich segle so vor mich hin", sagte die kleine Wolke, "und kleide den kleinen wunderschönen Garten in ein neues Gewand." Diese Worte berührten den Vogel so heftig, dass er abgestürzt wäre, wenn die kleine Wolke ihn nicht aufgefangen hätte. Als die kleine Wolke merkte, dass der Vogel wieder zu sich fand und gedankenverloren begann die Schwingen auszubreiten und seine Kreise zu ziehen, löste sie sich sanft und schenkte ihm unbemerkt zum Abschied einen kleinen Regentropfen, den sie ihm auf den Schnabel fallen ließ.

Der Regentropfen rutschte dem Vogel langsam, mit kleinen Pausen, bis zur Schnabelspitze herab. Ohne es zu bemerken leckte er ihn auf. Im Herzen des Vogels erwachten Bilder, die er lange nicht gesehen hatte. Er betrachtete die Bilder und Tränen strömten aus seinen Augen. Die kleine Wolke, die nun tief unter ihm flog, fing sie sorgsam auf und barg sie in ihrem weichen Gewand.

Dann kam ein gewaltiger Sturm auf. Der Sturm riss das Federkleid des Vogels auseinander, so dass ihn seine mächtigen Schwingen nicht mehr zu tragen vermochten. Der Sturm rüttelte und schüttelte ihn, dass er fast das Bewusstsein verlor und trieb ihn weit, weit über alle Horizonte hinaus, die der Vogel jemals erkundet hatte. Es dauerte diesmal sehr lange, bis der Vogel sich den Sturm zum Freund gemacht hatte.

Zerzaust und abgekämpft begann der Vogel ein Lied zu singen, um aus den Klängen neue Kraft zu schöpfen. In sein Lied flossen jedoch nun Töne, die ihn von fern an etwas erinnerten, das er schon einmal gefühlt hatte, und er spürte, dass das Lied ihn weniger trug als sonst. Dann wusste er plötzlich dass wieder die Sehnsucht in seinem Herzen wohnte, eine Flamme entzündet hatte, die heißer und heißer wurde. Als er glaubte verbrennen zu müssen, zog er die Schwingen ein und ließ sich fallen...

...Lange stürzte der Vogel in die Tiefe. Es wurde Nacht um ihn und es wurde Nacht in ihm. Im rasenden Fall gefror sein Lied zu Eis.

Als der Vogel das Bewusstsein wiedererlangte, wärmte ihn die Sonne. Er lag auf einer Wiese in einer herrlichen Landschaft. Wundervolle Vögel deren Federn alle Farben des Regenbogens trugen, umgaben ihn, pflegten sein Federkleid und schauten ihn liebevoll an. Noch nie hatte er sich so aufgehoben, so angenommen gefühlt, nicht einmal in dem kleinen Nest, im Apfelbaum, in dem kleinen wunderschönen Garten.

Sein Herz wurde weiter als es jemals gewesen war. Es wurde so weit, dass die Töne des gefrorenen Liedes zersprangen und es wie mächtige Glocken aus ihm klang. Die wundervollen Vögel um ihn her stimmten ein und ihr gemeinsames Lied ließ die Sonne lange verweilend zuhören, bis sie sich glückstaumelnd in einem Rausch von Farben hinter den Horizont fallen ließ, um auch die Dunkelheit an diesem einzigartigen Lied teilhaben zu lassen.

Der Vogel war glücklich wie noch nie in seinem Leben. In dieser herrlichen Landschaft, mit diesen wundervollen Vögeln hatte er das Gefühl endlich am Ziel aller Sehnsucht zu sein. Sein Herz war voll von Geschenken die er mit den wundervollen Vögeln teilte, so wie sie ihre Geschenke mit ihm teilten. Die Kraft ihrer Lieder wurde größer und größer.

Eines Tages saß der Vogel im wiegenden Schatten seines Lieblingsbaumes. Manche Weisheit hatten sie sich in den vergangenen Jahren geschenkt. Der Baum berichtete dem Vogel von den kraftvollen dunklen Tiefen der Erde, vom Wasser des Lebens das er erkundete, Vom Aufblühen, den Früchten und dem Vergehen. Der Vogel berichtete von der tragenden Kraft der Lieder, von den ungebärdigen Sturmfreunden, der grenzenlosen Freiheit und den vielen erforschten und unerforschten Horizonten. Das Glück einte sie.

Der Vogel saß im wiegenden Schatten seines Lieblingsbaumes und die Sonnenflecke blitzten wie Diamanten auf seinem Gefieder. Am Fuß des Baumes bemerkte er mit einem mal eine Pflanze die ihm vorher niemals aufgefallen war. Aus einer Blattrosette mit tief grünen, samtenen Blättern erhob sich anmutig ein langer wiegender Stängel und auf diesem saß eine einzige, eigenartig geformte Knospe. Der Vogel fühlte, dass diese Knospe kurz vor dem Aufspringen war. Es war ein heiliger Moment, der ihn den Atem anhalten ließ.

Langsam platzte die Knospe an der Spitze auf, und es floss ein strahlendes, kräftiges blaues Licht heraus. Nach und nach entfaltete sich eine Blüte, wie sie der Vogel nicht einmal in seinen Träumen gesehen hatte. In den Tiefen ihres roten Kelchinnern waren alle noch verborgenen Geheimnisse der Welt vereint, von zarten Staubgefäßen behütet. Zu ihrer Geburt schmückte sie sich mit einem funkelnden Tautropfen, der ihr Licht tausendfach brach und verströmte.

Der Vogel stand ganz im Augenblick dieses Wunders. Um ihn herum versank die Welt. Magisch angezogen beugte er sich weiter und weiter vor, und voller Andacht küsste er die Blüte, wie er noch nie geküsst hatte. Die Blüte ließ ihren Tautropfen in den Schnabel des Vogels gleiten, während ihr Licht nach und nach verblasste...

Wunderschön und ergreifend waren die Lieder, die der Vogel und die wundervollen Vögel sangen, tief die Weisheiten des Baumes, herrlich die Landschaft. Doch der Vogel spürte in seinem Gesang einen Ton, der, vertraut und doch wieder unbekannt, sein Herz berührte. Immer wieder schmeckte er den Tautropfen und das Licht der Blüte erfüllte ihn. Die Flamme seiner Sehnsucht gewann von Tag zu Tag an Kraft.

Eines Tages breitete er wieder seine mächtigen Schwingen aus, rief seine Freunde, die Stürme und unendlich tief in seinem Herzen wusste er es...

"Die Kraft die mich bewegt, ist LIEBE..."

Aus einer mächtigen Wolke im Gewand des Daches des kleinen wunderschönen Gartens, fielen in dem Moment, als die Luft den Vogel empor trug, glänzend wie edelste Perlen, einige Tränen. Sie fielen auf zwei Vögel, die in einem kleinen Nest, im Apfelbaum des kleinen wunderschönen Gartens saßen und von Liebe träumten...

 

E. A. Grote

 

Nov. 2002

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