"Lust und Kunst"  Geschichten und Texte


Die Blumen in Nachbar´s Garten

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Ich wohnte in einer Siedlung aus unauffälligen Häusern, welche von unauffälligen Menschen bewohnt wurden.

Die Siedlung lag entlang einer Ringstraße, und mein Haus stand, aus der Vogelperspektive betrachtet, etwa am Scheitel des Ringes, gegenüber der Zufahrtstraße. Ich fuhr die meiste Zeit des Jahres mit dem Rad zur Arbeit. So konnte ich mir jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeitsstätte aussuchen, ob ich links oder rechts die Straße hinunterfuhr. Rechts herum war der Weg zur Einmündung der Zufahrstraße länger. Da ich aber schon früh in meinem Leben beschlossen hatte immer den rechten Weg zu wählen, auch wenn er schwieriger oder weiter sein sollte, achtete ich der weiteren Strecke nicht.

In unserer Straße mit den unauffälligen Häusern und den unauffälligen Menschen gab es etwas Auffälliges. Es war der Vorgarten des Nachbarn, welcher das übernächste Haus links die Straße hinab bewohnte. Ein alleinstehender Mann mit seltsamen Ansichten, - nicht nur zu Vorgärten.

In unserer Siedlung hat zwar jedes Haus einen Vorgarten, doch es ist völlig unüblich, ihn zu bepflanzen. Die Grundstücke und Häuser sind nicht sehr groß, und wo sollte man mit den ganzen Dingen hin, wie Fahrrädern, Bobbycars, Papiertonnen, gelben Säcken, Kinderspielzeugen und erst recht einem kleinen PKW-Anhänger? Es war übrigens üblich, all diese Dinge einfach im Vorgarten zu lassen, denn in unserer Siedlung wohnten nur ehrliche und rechtschaffene Menschen. Weil man das im Leben anzieht, was man selbst ist, kamen auch nur ehrliche Menschen in unsere Siedlung. So weit sich alle Anwohner erinnern konnten, wurde nie etwas gestohlen.

Gut, dieser Nachbar im übernächsten Haus links, hatte keine Kinder und keinen PKW. So gab es auch kein Bobbycar und keinen Anhänger. Sein Fahrrad brachte er seltsamer Weise immer im Haus unter, obwohl er es drei Stufen hochtragen musste. Er schien wirklich Angst vor Dieben zu haben, - was ja nun, siehe oben, ein gewisses Licht auf seinen Charakter warf. Seine Tonnen und gelben Säcke hatte er dicht nebeneinander in einem selbstgezimmerten Häuschen untergebracht. Im Gegensatz zu unseren Gepflogenheiten war sein Vorgarten von einem kleinen, spießig wirkenden Jägerzaun mit einer Pforte umgeben. Wovor hatte er Angst? Erst recht seltsam war es aber nun eben, dass dieser Mann seinen Vorgarten bepflanzte! Stundenlang jätete er Unkraut,hackte, schnitt, säte, goss, düngte - auch noch mit Mist, den er eimerweise auf dem Fahrrad, von weiß Gott woher, heranholte! Na ja, - zugegeben; die Blumen wucherten nur so dicht an dicht, sogar bis durch den spießigen Zaun, leuchteten in allen Farbschattierungen und Formen, und es sah ja auch irgendwie schön aus...

Es gab das Gerücht, dieser Nachbar habe den Traum, eines Tages ein fernes Land zu besuchen. Um sich diesen Traum zu erfüllen, so wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, spare und spare er. Wenn das wirklich wahr war, warum steckte er dann Geld in seinen Vorgarten?

Eines Tages wurde beobachtet, wie er einen langen Schlauch sorgfältig zwischen den Blumen im Vorgarten verlegte. Man sah ihn einen Karton auspacken, welcher eine digital-gesteuerte Bewässerungsanlage enthielt. Er entfernte sorgfältig alles Unkraut und lockerte den Boden.

Am nächsten Morgen sah ich ihn seine Haustür abschließen und mit einem Koffer die Straße links hinuntergehen. Ich nahm den rechten Weg zur Arbeit.

Als ich am Abend wiederkam, bemerkte ich von weitem einen Mann vor dem Vorgarten des übernächsten Hauses links stehen. Er schaute sich verstohlen um, langte über den Jägerzaun und brach eine kaum aufgeblühte rote Rose ab. "Typisch Mann!", dachte ich. "Er hat garantiert den Geburtstag seiner Frau oder den gemeinsamen Hochzeitstag vergessen! Da hilft er sich so einfach aus der Patsche." Ich grinste vor mich hin. Die Idee hätte mir letztens auch einiges ersparen können... Welcher Mann ist nicht etwas vergesslich?

Am nächsten Morgen bestieg ich mein Fahrrad und wollte mich gerade auf den rechten Weg machen, da hatte ich den Eindruck, dass die Blumen am Jägerzaun entlang irgendwie etwas zerzaust aussahen; - aber das konnte natürlich auch eine Täuschung sein...

Abends, als ich wieder zu Hause ankam, war es aber bestimmt keine Täuschung mehr! Den ganzen Zaun entlang klafften regelrechte Lücken zwischen den Pflanzen. Ach dachte ich, ob es gerade so viele Geburts- und Hochzeitstage gibt?

Ich trat morgens aus der Haustür, da sah ich gerade noch wie ein Anwohner, der ein Stück weiter die Straße links entlang wohnte, aus dem Garten heraus über den Zaun sprang und die Straße langlief. In seiner Hand leuchtete ein großer bunter Blumenstrauß. "Das muss ja nun wirklich nicht sein!", dachte ich. "Ein wenig Anstand sollte man ja nun haben!" Ich schüttelte mit dem Kopf. Dann fiel mir auf: So weit man von der Straßenseite über den Zaun greifen konnte, waren alle Blumen völlig verschwunden! "Was die Menschen so alles machen...", dachte ich noch und machte mich auf den rechten Weg.

Am Abend bemerkte ich, dass zwei oder drei Latten des Jägerzaunes auf dem Gehweg lagen. Sie waren wohl beim Darübersteigen herausgebrochen. Dann spürte ich plötzlich, wie mich eine Kraft leise in Richtung des übernächsten Hauses ziehen wollte. Ich hielt mich aber zurück, stellte mein Rad ab und ging ins Haus.

Am Morgen klaffte eine große Lücke im Jägerzaun. Ein ganzes Feld zwischen den Pfosten war verschwunden. Es lag auch keine einzige Latte mehr da. So weit ich sehen konnte, standen nur noch vereinzelte Blumenbüschel im Vorgarten. Ich hatte - zugegeben - etwas Schwierigkeiten, gegen den Sog anzukommen, der mich in Richtung des Jägerzaunes ziehen wollte. Ich nahm, selbstverständlich, aber den rechten Weg zur Arbeit.

So weit ich mich erinnere, stand am Abend noch eine Blumenstaude im Vorgarten des übernächsten Hauses. Ich konnte nicht fassen, was die Menschen so getan hatten! Es kostete einige Kraft, nicht hinüberzulaufen.

Als ich am nächsten Morgen aus dem Haus trat, trugen mich meine Beine, ehe ich mich versah, nach links die Straße entlang und durch die Lücke im Jägerzaun. Fassungslos blickte ich auf die Verwüstung! Die Blumen waren abgeschnitten, abgerissen, und manche sogar mit den Wurzeln aus der Erde gezogen worden! Der Schlauch der digital-gesteuerten Bewässerungsanlage war direkt am Kellerschacht abgeschnitten. Es war trocken, und folglich strömte das Wasser aus dem Rest des Schlauches, lief den Kellerschacht hinunter und floss sogar zum Teil durch das etwas angekippte Kellerfenster ins Haus! Schlimm! - Aber was konnte ich machen? Ich hatte ja keinen Schlüssel! Da hatte der Nachbar selbst schuld wenn er niemanden hier vertraute!

Mein Blick wanderte umher und blieb plötzlich an einer kleinen gelben Blume hängen. Sie war die letzte der ganzen Gesellschaft, stand dicht an der Hauswand und ließ den Kopf hängen. Sie sah sehr traurig aus! Mein Herz floss vor Mitgefühl über wie das Wasser im Kellerschacht! "Ich werde Dich retten, du kleine Blume!", sagte ich vor mich hin. Als ich sie mit den Wurzeln aus der Erde zog, seufzte sie auf. Bestimmt vor Erleichterung!

Zu Hause pflanzte ich sie mit guter Erde in einen hübschen Topf und gab ihr Wasser. Leider kam mein Rettungsversuch zu spät. Nach drei Tagen war sie gestorben. Wohl an gebrochenem Herzen.

Etwa drei Wochen später fegte ich gerade vor meiner eigenen Haustür, als ich den übernächsten Nachbarn mit seinem Koffer zurückkommen sah. Als sein Blick auf seinen Vorgarten fiel, bleib er wie festgeschweißt stehen, ließ den Koffer fallen und starrte ungläubig auf das Chaos. Er war kreidebleich im Gesicht. Dann heulte er auf, wie ein tödlich getroffenes Tier. "Oohhhhh, meine schönen Blumen! Weg... Umgebracht sind sie! Nicht eine einzige, nicht EINE winzig kleine Blume ist mehr da!!! Ooouuuhhhhh....!" Es war furchtbar, ihn so zu erleben! Ich verschwand schleunigst in meinem Haus!

Wenige Stunden später hörte ich Hammerschläge. Nach einiger Zeit spähte ich vorsichtig nach draußen. Der Nachbar hatte in seinem Vorgarten offensichtlich ein Schild aufgestellt und nun reparierte er den Jägerzaun provisorisch mit ein paar alten Brettern.

Eine Zeit nachdem die Hammerschläge verklungen waren, trieb mich die Neugier hinaus. Ich ging über die Straße und schaute vorsichtig zum übernächsten Nachbarn hinüber. Im Vorgarten stand ein Schild mit der Aufschrift: Todesstrafe für Gartenschänder und Blumenmörder!

Ob das nicht etwas zu heftig war?
Das fanden wohl andere Menschen auch. Bereits während der Nacht wurden die provisorischen Bretter vom Jägerzaun abgerissen und das Schild mit Graffiti übersprüht.

Die Menschen unserer Siedlung hatten in der nächsten Zeit viel Mitgefühl mit dem Nachbarn. Einige sprachen ihn sogar auf sein Unglück an. Soweit ich es mitbekam waren darunter auch diejenigen, welche Blumen geraubt hatten. Machmal schnappte ich ein paar Sätze auf: "Was pflanzt du auch Blumen in deinen Vorgarten. Das tun wir anderen ja auch nicht."
"Du hättest einfach einen ordentlich hohen und stabilen Zaun bauen müssen."
" So sind die Menschen eben. Damit musstest du rechnen."
" Du bist doch bestimmt gegen Vandalismus versichert."
"Schau, du hast doch noch einen so schönen Garten mit einem Teich hinter dem Haus.Setz Dich doch mal dort hin und meditiere ein wenig. Da wird die Ruhe schon wieder über dich kommen."

Doch der Nachbar zog sich noch mehr zurück als früher. Den Garten hinter dem Haus umpflanzte er blickdicht mit hohen Scheinzypressen. Sein rechter und linker Nachbar taten sich zusammen und wollten ihn verklagen, weil er ihren "freien Blick" mit der Bepflanzung einschränkte. Da aber alle gesetzlichen Pflanzabstände und Höhen eingehalten waren, wurde die Klage abgewiesen. Seither sind sie ihm sehr feindlich gesonnen und verstreuen manche Gerüchte über ihn.

Die Zeit ist vergangen...
Der Vorgarten des übernächsten Nachbarn sieht seit mehr als zwei Jahren so verwahrlost aus wie alle anderen in unserer Siedlung. Seit damals müssen wir die Fahrräder und andere Dinge in die Häuser holen, denn es wird seit der Gartenplünderung immer wieder etwas gestohlen. Die Welt hat sich verändert.

Ich nehme nun öfter auch den linken Weg um zur Arbeit zu fahren. Immer wieder denke ich dann an die einstige Pracht dieses Vorgartens und ihres Unterganges, und immer häufiger drängt es mich zu gestehen: "Nachbar, ICH war derjenige, welcher die letzte kleine Blume aus deinem Garten riss! Es tut mir wirklich unendlich leid!!!" Erst heute kann ich empfinden, dass es noch viel viel schlimmer ist, die letzte kleine Blume auszureißen, als jede prachtvolle andere vorher; denn die letzte Blume wurzelt stets direkt im Herzen eines Menschen...

E. A. Grote 

P.s. Ich habe Angst davor, doch gestehe ich es meinem Nachbarn JETZT!


15.05.2011

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